Glück im Unglück

Teile diesen Beitrag mit deinen Freunden:

Bereits am Abend ging der Regen in den Schnee über.

Tag 12 – Noch nie hatte ich bei Schneefall im Zelt übernachtet und ich bin erstaunt, dass Schneeflocken tatsächlich Geräusche machen: zumindest in dem Moment wo sie auf das Zeltdach treffen.

Mehrmals in der Nacht wurde es leise im Zelt, nicht weil es aufgehört hatte zu schneien, sondern weil die Schneedecke auf dem Zelt so dick war, dass wir die frischen Schneeflocken nicht mehr hören konnten. Wie uns aufgetragen wurde, schütteln wir eifrig am Zeltdach, um es von der Schneelast zu befreien. Auch die Küchencrew ist die ganze Nacht über unterwegs, um im Lager nach dem Rechten zu schauen.

Reichlich Schnee über Nacht

Am Morgen dann die Gewissheit: Über Nacht gab es 30 cm Neuschnee

Und wir müssen einen nicht gespurten Pass queren. Ich finde die Situation erstmal toll, ich liebe Schnee und habe genügend Schichten an, um nicht zu frieren. Wir packen unsere Sachen zusammen, während die Pferdeführer noch nach ihren Pferden suchen, die sich im Laufe der Nacht wohl verdrückt hatten und zunächst nicht auffindbar sind.

Dann marschieren wir los, zunächst am Fluss entlang, rechts am Ufer, links am Ufer, dann wollen wir wieder den Fluss queren. Der Schnee wird mehr, es ist rutschig und neblig. Unser Guide hat einen stabilen Stand und hilft uns über die erste schwierige Stelle am Fluss. Ich bin die Erste und weil ich am übernächsten Stein an einer ebenfalls heiklen Stelle gut und sicher stehe, helfe ich den Mitwanderern. Zumindest den ersten beiden.

Dann kommt Mick – und rutscht aus.

Er zieht mich mit, ich versuche mich zu halten, doch das schwächste Glied gibt nach – und das ist mein rechtes Knie. Ich falle ansatzweise ins Wasser und habe nicht nur ein lädiertes Knie, sondern auch nasse Handschuhe und Ärmel – wohlgemerkt es hat noch Minusgrade.

Ich rette mich an Land, muss jedoch unverzüglich feststellen, dass ich nicht mehr weitergehen kann. Mein Knie hat wohl gelitten. Was also tun?

Wir sind mitten im Nirgendwo

Nebel behindert unsere Sicht, gehen kann ich nicht und ein Hubschrauber kann bei dem Wetter nicht fliegen. Und wir müssen über den Pass um ins Tal zu kommen.

Unser Guide läuft zurück zum Lager und organisiert ein Pferd – die Lastenpferde sind glücklicherweise inzwischen gefunden worden. In der Zwischenzeit wird mein Knie getaped und ich werfe eine Schmerztablette ein.

Auftreten geht gar nicht mehr

Mühsam steige ich aufs Pferd, linker Fuß in den Steigbügel, rechtes Bein muss runterhängen. Und dann darf ich reiten – bis das Pferd seinen Dienst verweigert, weil es nichts sehen kann. Zuviel Schnee auf dem Weg (war da überhaupt ein Weg?) und zuviel Gewicht auf dem Rücken. Nach vergeblichen Aufmunterungs- und Motivationsversuchen, das Pferd wieder in Gang zu bringen, beschließe ich schließlich, abzusteigen und zu gehen: Schneefall, kein Weg, Nebel, keinen Plan ob wir richtig sind ….

Schmerzen habe ich keine mehr, zumindest nehme ich sie nicht wahr

Der Adrenalinausschub ist hoch genug. Es geht weiter bergauf, querfeldein, der Guide sucht den Weg, Marcus gibt sich alle Mühe, die Spur für mich zu ebnen und die anderen weit hinter uns. Keine Ahnung warum wir so schnell sind und woher die Energie kommt. Ganz nach dem Motto des Eishockeyclubs unserer Heimatstadt, der Adler Mannheim (“Immer weiter, immer immer weiter …”) geht es immer weiter nach oben, noch immer kein Ausblick und keine Ahnung wann wir am Pass sind. Es fühlt sich unheimlich an, wir hoffen unser Guide weiß, was er tut. Er weiß es – endlich sehen wir die langersehnten Steinmännchen am Weg und wissen, dass wir richtig sind. Wir können unter uns den Pass sehen, steigen nahezu hundert Meter ab und erreichen die Passhöhe bei Sonnenschein.

Gonmara La, 5.200 m

Mein Knie fühlt sich heiß und dick an, ich bin froh über die Pause.

Leider darf ich noch nicht wieder aufsteigen: der Weg den Pass runter ist heute stark frequentiert und zu rutschig für das Pferd mit Reiter. Ich solle einige Queren gehen und dürfe dann aufsteigen. Zu dem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, dass ich erst wieder unten im Tal aufsteigen werde…

Die Sonne scheint und bringt den Schnee zum Schmelzen. Unser Pfad verwandelt sich in ein feuchtes Rinnsal, wir verlieren erneut viel Zeit, weil sich einige in der Gruppe sehr schwer tun mit dem Abstieg. Mittlerweile ist längst Mittagessenszeit. Wir wollen jedoch weg vom steilen Hang, eine Pause scheint hier zu riskant zu sein. 

Dieser Weg wird kein leichter sein …

Weiter unten finden wir einen schönen Platz, gönnen uns jedoch nur eine kurze Pause, denn der weitere Weg führt am Fluss entlang.

Und der führt immer mehr Wasser

Der Weg ist schmal und führt teilweise am steilen Hang entlang. Ich dürfte auf das Pferd, doch das traue ich mir hier nicht zu. Ich vertraue in diesem Gelände lieber meinen eigenen Beinen mit kaputtem Knie, als dem Pferd. Also gehe ich weiter.

Wir queren insgesamt fast zwanzig Mal den Fluss, zunächst von Stein zu Stein, dann ziehen wir die Schuhe aus, um keine nassen Schuhe zu bekommen. Doch irgendwann ist der Punkt erreicht, wo auch das nicht mehr geht.

Das Wasser ist zu tief, die Strömung ist zu stark, wir wollen nur noch irgendwie raus aus dieser Schlucht

In den Schuhen steht das Wasser, die Hosen sind bis zum Schritt nass und wir höchst angespannt.

Zum Queren bilden wir mit anderen Gruppen eine Kette, halten uns aneinander fest, um der Strömung zu trotzen. Die Guides sind eine wertvolle Unterstützung und geben alles, um uns sicher ins Tal zu bringen.

Mein Knie spüre ich nicht mehr, immerhin ist es durch das kalte Wasser dauergekühlt und anscheinend nicht geschwollen. Es ist auch egal, wir müssen da irgendwie runter – bevor es dunkel wird. Heute fließt hier ein reißender Strom, normalerweise sickert ein schmaler Bach durch die Schlucht.

Es ist unfassbar

Fast geschafft …

Irgendwann haben wir es geschafft und die letzte Flussquerung hinter uns gebracht.

Ich bin völlig erschöpft und kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Endlich kann ich mich wieder auf „mein“ Pferd setzen und werde die letzten Kilometer bis zum Auto getragen. Endlich im Warmen, endlich auf sicherem Boden. Endlich geschafft.

Zwei Wochen später werde ich zuhause die Diagnose „Ruptur des Vorderen Kreuzbandes“ bekommen.

Teile diesen Beitrag mit deinen Freunden: